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Die Reichsbahn und der Strafvollzug in der DDR: Häftlingszwangsarbeit und Häftlingstransport



Etwa 500 Strafgefangene mussten jährlich für die Reichsbahn der DDR Zwangsarbeit leisten. Für die Strafgefangenen und insbesondere die politischen Gefangenen der DDR musste das zynisch erscheinen - aus dem „Recht auf Arbeit“ wurde der „Zwang zur Arbeit“.


Der letzte noch existierende Gefangenentransportwagen der DDR, der „Grotewohl-Express“, am Hauptbahnhof in Leipzig 2002 (© picture-alliance / ZB - Fotoreport Waltraud Grubitzsch)


Bis heute ist der Arbeitseinsatz von Häftlingen in nahezu allen Ländern ein wesentlicher Bestandteil des Strafvollzugs. Und bis heute ist die Haftarbeit infolge eines gerichtlich angeordneten Freiheitsentzuges die einzige Form der Zwangsarbeit, die auch durch die Vereinten Nationen legitimiert ist. Unter den bereits 1955 beschlossenen und inzwischen mehrfach neu formulierten Mindeststandards für die Behandlung von Gefangenen befindet sich auch die Empfehlung, Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Doch bleibt die Gefangenenarbeit immer ein ausgesprochen sensibler Bereich der Menschenrechtsfragen, denn dort, wo der Mensch seiner Freiheitsrechte beraubt ist, ist der Grat zwischen sinnvoller Gefangenenarbeit und der Ausbeutung von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern schmal. Dies gilt umso mehr, wenn – wie im Fall der DDR – elementare Säulen der Rechtsstaatlichkeit wie eine funktionierende Gewaltenteilung sowie unabhängige Straf- und Verwaltungsgerichte fehlen.

Die fehlende Rechtsstaatlichkeit und der Arbeitskräftemangel in der DDR förderten die Entstehung eines Systems der Haftzwangsarbeit im Strafvollzug der DDR. Haftzwangsarbeit wurde zu einem festen Bestandteil der sozialistischen Planwirtschaft, von dem Strafvollzug, volkseigene Betriebe und Außenhandel gleichermaßen profitierten.[1] Auch die Deutsche Reichsbahn war in dieses System eingebunden. Anders als die Betriebe der Konsumgüter- oder der Chemie- und Schwerindustrie war sie aber Dienstleister und Profiteur des Strafvollzugs zugleich: Dienstleister, indem sie den Gefangenentransport mit sicherstellte und sich an dem Bau von Strafvollzugseinrichtungen beteiligte; Profiteur, da sie Häftlingszwangsarbeiter beschäftigte.

Der Gefangenentransport für den Strafvollzug

Der Transport von Häftlingen mit der Bahn hatte seine Anfänge im 19. Jahrhundert. Selbstverständlich war es für Polizei und Justiz bequemer, Häftlinge mit der Eisenbahn zu verlegen als mit Pferdekutschen. So gab es bereits im Kaiserreich eigene Gefangenenwagenkursbücher, die den Strafvollzugsanstalten und der Polizei zur Verfügung standen, um ihre Gefangenentransporte zu planen. Anders als in der Bundesrepublik, wo der Gefangenentransport Mitte der 1950er Jahre aus Kostengründen nur noch mit Kraftfahrzeugen erfolgte, hielt die DDR an dem vergleichsweise langwierigen und demütigenden Verfahren der Verlegung von Gefangenen mit der Eisenbahn fest. Dafür wurden Zellenwagen an normale Reisezüge gekoppelt, die nach festgelegten Routen die Orte mit den Strafvollzugseinrichtungen anfuhren. Politische Gefangene der DDR nannten die Transporte per Bahn bald „Grotewohl-Express“.[2]

Gegen Ende der DDR existierten noch fünf solcher Zellenwagen, die nach den Vorgaben des Ministeriums des Inneren konstruiert worden waren.

Die einzelnen Zellen in einem Wagen hatten eine Abmessung von 1,34 x 1 Meter, in denen bis zu fünf Gefangene untergebracht werden sollten.

Sicherheitshalber verlangte die Wagenentwicklungsabteilung für die enge Anordnung der Sitze – je zwei an den Zellenwänden und ein Klappsitz am Fenster – die Zustimmung des medizinischen Dienstes des Ministeriums des Inneren, um diese menschenunwürdige Konstruktion dann umzusetzen. Die Gefangenentransporte fanden in aller Öffentlichkeit statt. Transportkommandos der Volkspolizei führten die Gefangenen zu den Bahnsteigen, an denen die Züge mit dem Zellenwagen bereitstanden.[3]


In Anstaltskleidung und mit Handschellen demonstriert ein ehemaliger Häftling 2004 die Beförderung im „Grotewohl-Express“ (© picture-alliance / dpa-Bildarchiv, Foto: Wolfgang Kumm)


Für den damals 19-jährigen Aram Radomski, der nach einem obskuren, von der Staatssicherheit inszenierten Verfahren, 1982 zu einer Haftstrafe verurteilt worden war, blieb der Transport von der Untersuchungshaft in Plauen zur Strafvollzugsanstalt in Zeithain bei Riesa besonders in Erinnerung:

„Ich kann mich gut daran erinnern, wie wir losgefahren sind. Da waren lauter Leute in meinem Alter; vor den Augen der Öffentlichkeit, in Zweierreihen, in Handschellen. Das war scheinbar normal, dass da eine Menge junger Leute in Plauen in so einen Wagen gebracht wurden. [...] Wir sind in dem Zug von Plauen nach Riesa gebracht worden. Unterwegs sind wir auch ausgeladen worden. Da schien also eine Art Logistik dahinter zu stehen; eine sehr alte Technik, vermute ich mal. Die Transportlogik bleibt ja immer ganz kühl. In meiner Erinnerung scheint es, als ob wir hin- und hergefahren sind. Man konnte ja auch gar nicht viel sehen durch die Milchglasscheiben. Das war alles unglaublich mühselig, auch wahnsinnig eng. Drei Tage habe ich in den Waggons zugebracht, wir übernachteten im Gefängnis in Leipzig und Dresden. Das war gespenstisch: Aus dieser DDR-Normalität, mehr oder weniger vogelfrei kamen wir in eine andere Realität, das war schon gruselig. Weil da so eine Routiniertheit war. Ich hatte ja nichts verbrochen.“[4]

Diese Erfahrung, öffentlich auf einem Bahnsteig zur Schau gestellt zu werden, im Ungewissen zu bleiben und die miserablen Transportbedingungen in den Gefangenenwagen selbst, wird bis heute von ehemaligen Gefangenen als besonders quälend und demütigend geschildert. Dass ein Transport für eine 147 km lange Bahnstrecke von Plauen nach Riesa drei Tage dauern konnte, war allein einer eingefahrenen Routine geschuldet, die wenig mit einem modernen Strafvollzug gemein hatte und dazu geeignet war, besonders diejenigen, die aus politischen Gründen zu Haftstrafen verurteilt waren, einzuschüchtern und zu verunsichern.

Die Beteiligung der Reichsbahn am Bau von Strafvollzugseinrichtungen

Das Gefängnis Zeithain bei Riesa war eines der modernsten Gefängnisse der DDR. Daher waren dort die Zellen und die sanitären Einrichtungen in einem deutlich besseren Zustand als etwa in den berüchtigten Strafvollzugeinrichtungen wie dem Männergefängnis Brandenburg oder dem Frauengefängnis Hoheneck bei Chemnitz. Gerade weil es ein modernes Gefängnis war, das 1977 in Betrieb genommen wurde, lässt sich an seiner Baugeschichte beispielhaft die enge Verquickung von Strafvollzug und sozialistischer Planwirtschaft zeigen.[5]

Bis zur Fertigstellung des Gefängnisneubaus nutzte die Reichsbahn für die Unterbringung von Häftlingszwangsarbeitern ein Barackenlager, das für die Bauarbeiter der neuen Eisenbahnbrücke über die Elbe 1963 errichtet worden war. Bis zu 200 Gefangene aus dem Gefängnis im sächsischen Waldheim sollten zunächst ab September 1966 dort untergebracht werden. Bald interessierte sich auch das Stahlwerk Riesa für das Lager. Gemeinsam bauten Strafvollzug, Stahlwerk und Reichsbahn das Barackenlager zu einem Straflager um.

Ursprünglich für 531 Häftlinge geplant, lebten dort wie 1974 bis zu 750 Häftlinge. 43 Prozent der damals Inhaftierten waren wegen Straftaten gegen die politische Ordnung und elf Prozent wegen Republikflucht verurteilt worden. Mehr als die Hälfte der Gefangenen war also aus politischen Gründen inhaftiert. Die Baracken waren mit Dreistockbetten ausgestattet und nur mangelhaft vor Hitze oder Kälte geschützt. Das Lager selbst war von einer 3,50 Meter hohen Betonmauer umgeben, auf der eine 380-Volt-Stromanlage angebracht war. Von den Häftlingen arbeitete die Mehrheit für das Stahlwerk, für die Reichsbahn waren es im Schnitt bis 1972 jährlich 80 bis 100. Sie arbeiteten bei der Gleisoberbauerneuerung und auf dem Jochmontageplatz in Wülknitz, wechselten Schienen und Schwellen, brachten Schotter auf und stopften Gleise oder montierten auf wiederaufbereiteten Schwellen parallel verlaufende Schienen zu Gleisstücken zusammen, die sogenannten Gleisjoche.

Nach der umfassenden Amnestie „für politische und kriminelle Straftäter“ vom 6. Oktober 1972 – eine Antwort auf die Überbelegung der Strafvollzugeinrichtungen und zugleich ein politisches Zeichen vor der Unterzeichnung des deutsch-deutschen Grundlagenvertrages – sollten der Reichsbahn aus Riesa keine Häftlinge mehr zugeteilt werden. Das Stahlwerk hatte sich bereit erklärt, den Gefängnisbau in Zeithain zu realisieren. Im Gegenzug sollte es bevorzugt Häftlingszwangsarbeiter zugeteilt bekommen. Dagegen hob die Reichsbahndirektion Dresden Einspruch, um sich schließlich mit der zuständigen Plankommission darauf zu verständigen, den Bau mit 1,99 Millionen Mark mitzufinanzieren. Diese Anteile wurden im Volkswirtschaftsplan der staatlichen Plankommission regulär bilanziert und über eine Art Rahmenvertrag die Zuweisung von Häftlingszwangsarbeiter zugesichert.

Die Strafvollzugseinrichtung Zeithain war der einzige Gefängnisbau, an dem sich die Reichsbahn direkt beteiligte. Aber das außergewöhnliche Engagement der Reichsbahndirektion Dresden in dieser Angelegenheit zeigt, wie sehr einzelne Betriebe um die Häftlingszwangsarbeiter konkurrierten, vor allem wenn es sich um anstrengende und gefährliche Arbeiten handelte, wie es bei der Jochmontage oder der Arbeit am Hochofen der Fall war. Es lag also durchaus im Eigeninteresse der sozialistischen Betriebe, wenn die potenzielle Zahl der Häftlingsarbeiter in den Strafvollzugseinrichtungen hoch blieb.

Haftzwangsarbeit bei der Reichsbahn

Es ist bis heute eine offene Frage, wie sehr es die volkseigenen Betriebe selbst waren, die beim Ministerium des Inneren darauf drängten, Häftlingsarbeiter zugewiesen zu bekommen. Im Fall von Zeithain war es eindeutig. Allerdings war das System der Haftzwangsarbeit in den 1970er Jahren bereits fest etabliert. Im Strafvollzug der DDR galt durchgängig das Prinzip „Erziehung durch gesellschaftlich nützliche Arbeit“. Vorbild waren die Konzepte des sowjetischen Pädagogen Anton Makarenko (1888–1939), nach denen Arbeitskollektive selbst disziplinierend und erziehend wirken sollten.[6] In ihrer Konsequenz war dies für den Strafvollzug des SED-Staates sehr einfach zu handhaben, da zumeist die kriminellen Gefangenen den Häftlingsalltag bestimmten, das Wachpersonal sich zurückziehen konnte und die Frage, was gesellschaftlich nützliche Arbeit sei, mit den ökonomischen Interessen der Planwirtschaft beantwortet wurde.[7]

Eine dieser gesellschaftlich nützlichen Aufgaben war der Ausbau des Rostocker Hafens und der Bahnmagistrale nach Berlin. Für dieses Vorhaben, das Teil des Siebenjahresplanes von 1958 war, wurden Baukapazitäten aus der gesamten Republik zusammengezogen. Dennoch hatte die Baudirektion der Reichsbahn Schwierigkeiten, für die noch überwiegend per Hand ausgeführten Damm- und Gleisarbeiten ausreichende Arbeitskräfte zu rekrutieren. Insofern war es naheliegend, auf das Reservoir an Häftlingsarbeitern zurückzugreifen. Die Initiative dazu ging von der örtlichen Bauleitung der Reichsbahn im mecklenburgischen Lalendorf aus, die im Dezember 1958 bei der Strafvollzugsverwaltung des Bezirks Schwerin 100 Häftlinge anforderte. Wegen der volkswirtschaftlichen Dringlichkeit des Magistralenbaus erteilte die Bezirksverwaltung der Volkspolizei der Gefängnisleitung in Bützow die Anweisung, Gefangene aus anderen Arbeitseinsatzbetrieben vorrangig jetzt der Reichsbahn zuzuweisen. Davon unabhängig forderte auch die zentrale Reichsbahnbaudirektion in Berlin bei der Spitze der Strafvollzugsverwaltung im Innenministerium Häftlinge aus anderen Gefängnissen im Norden der DDR an.

Der Ausbau der innerdeutschen Grenzanlagen 1961 und die zunehmenden Repressionen durch Justiz und Staatssicherheit hatten die Zahl der Gefangenen in der DDR insgesamt ansteigen lassen. Es bestand also kein Mangel an Strafgefangen und ein erheblicher Teil der neu inhaftierten Häftlinge in Bützow und Neustrelitz wurde bei den Bauarbeiten an der Magistrale eingesetzt.

Aus der Perspektive der Reichsbahn war dies allerdings keine dauerhafte Lösung. Selbst der Leiter der politischen Verwaltung bei der Reichsbahnbaudirektion betrachtete die Häftlingsarbeiter als eine „unsichere Größe“, auf deren Gestellung man sich bei den weiteren Planungen für den Streckenausbau nicht dauerhaft verlassen könne. 1966 betrug der Anteil der Strafgefangenen an der Gesamtzahl der Gleisbauarbeiter der Magistrale, wie der Historiker Christopher Kopper feststellte, immerhin 6,4 Prozent.[8] Das waren 243 Menschen. Wegen der harten Arbeit bei teilweise sehr schlechtem Wetter war der Krankenstand unter den Häftlingen hoch. Trotz der rigiden Krankschreibungspraxis der Gefängnisärzte war jeder Häftlingsarbeiter im Jahresdurchschnitt an 15 Tagen arbeitsunfähig geschrieben. Eine Möglichkeit zur beruflichen Qualifizierung gab es für die Häftlingsarbeiter auf den Reichsbahnbaustellen nicht.


Auch für die Strafvollzugsbehörden war der Einsatz von Häftlingen auf mobilen Baustellen heikel. Obwohl die Häftlinge als geschlossene Arbeitskolonnen eingesetzt und während der Arbeit von bewaffneten Aufsichtsposten der Strafanstalten und der Transportpolizei bewacht wurden, kamen sie mit zivilen Arbeitskräften in Kontakt. Häftlinge tauschten Waren mit Zivilarbeitern und verglichen die zu erzielenden Normen und die Arbeitsbedingungen, die mit darüber entschieden, ob es Zusatzzahlungen beim Gefangenengeld gab. Auch konnten oder wollten die vergleichsweise wenigen Wachposten die Häftlinge auf den Baustellen nicht lückenlos überwachen. Und schließlich gab es immer wieder Abweichungen vom Plan, sodass die Reichsbahn Häftlinge meist punktuell, je nach Arbeitskräftebedarf beorderte.

Interministerielle Koordination

Dies mag mit ein Grund dafür gewesen sein, dass das Ministerium für Verkehr – in der Person seines Ministers und Generaldirektors der Reichsbahn Erwin Kramer – und das Ministerium des Inneren unter Friedrich Dickel 1967 einen Rahmenvertrag über den Einsatz von Strafgefangenen bei der Reichsbahn unterzeichneten. Der Arbeitseinsatz von Häftlingen sollte nun nicht mehr nur objekt- und jahresweise, sondern längerfristig geplant werden. Auch für die Strafvollzugseinrichtungen selbst war der Einsatz von Gefangenen in festen Arbeitsplätzen lukrativer und einfacher zu handhaben. Eine Ausnahme bildete das militärische Strafvollzugskommando Berndshof,[9] in dem unter anderen auch die konsequenten Kriegsdienstverweigerer der Zeugen Jehovas ihre obligatorische Strafe von 18 bis 24 Monaten verbringen mussten. Sie wurden durchgängig bis 1983 zu schweren Ausbesserungsarbeiten auch im Gleisbau herangezogen.[10]

In Folge des Rahmenvertrages ging die Reichsbahn dazu über, feste Arbeitsplätze für Häftlinge einzurichten, wie es zum Beispiel im Oberbauwerk Bützow, bei der Jochmontage in den brandenburgischen Orten Fürstenberg und Hohenbocka, im sächsischen Wülknitz und im thüringischen Stößen bereits der Fall war. Auch in der berüchtigten Strafvollzugsanstalt Brandenburg-Görden richtete die Reichsbahn eine Montagehalle für die Ausbesserung von Güterwagen ein, eine Außenstelle des Reichsbahnausbesserungswerks Potsdam.

Brandenburg-Görden eignete sich deshalb als Produktionsstätte, da das Gefängnisgelände über genügend Platz für Betriebe mit großem Flächenbedarf verfügte. Hier befand sich einer der größten Produktionskomplexe innerhalb von Gefängnismauern der DDR.[11] Für die Reichsbahn war der Gleisanschluss an die Nebenstrecke Brandenburg-Rathenow von besonderem Vorteil. Die auszubessernden Güterwagen konnten ohne zusätzliche Investitionen in das Gleisnetz in und aus dem Gefängniswerk überführt werden. Da die Verwaltung Strafvollzug sich gegenüber der Reichsbahn verpflichtet hatte, dem Werk Potsdam jährlich 110 Gefangene zur Verfügung zu stellen, erklärte sich die Generaldirektion 1967 bereit, auf dem Gefängnisgelände auf eigene Kosten eine Außenstelle des Werkes einzurichten.[12]

Das Gefangenenwerk war aus der Perspektive von Reichsbahn und Strafvollzug eine erfolgreiche Einrichtung. 1973/1974 verständigten sich beide darauf, die Zahl der Häftlingsarbeiter zunächst auf 150 Personen zu erhöhen, 1975 sollten 300 Häftlinge beschäftigt werden. Das waren Planzahlen, die in der Realität dann doch immer schwankten.[13]

Dantes Inferno

Wie schrecklich die Bedingungen in den Gefängnissen der DDR und insbesondere in Brandenburg waren, ist oft beschrieben worden.[14] Ein Reichsbahner, der als Meister für das Gefängniswerk arbeiten musste, verglich die Arbeitsbedingungen in Brandenburg mit dem Danteschen Inferno.[15] In der Tat lag die Unfallrate im Gefängniswerk während des Zeitraums von 1967 bis 1989 höher als im Durchschnitt aller Arbeitseinsatzbetriebe im Gefängnis Brandenburg. Obwohl zum Beispiel 1972 nur etwa fünf Prozent der Brandenburger Häftlinge bei der Güterwagenausbesserung arbeiteten, betrafen 40 Prozent aller unfallbedingten Krankheitstage diese Gruppe.[16] Schwere Unfälle wurden unter anderem durch Metallteile verursacht, die beim Zerlegen von Waggonwänden oder beim Abtrennen der Puffer herunterfielen. Auch waren die Arbeiter durch die schwefelhaltigen Schweißgase gefährdet. Atemschutzmasken standen nicht zur Verfügung. Der einzige vorbeugende Gesundheitsschutz bestand in einer bescheidenen Sonderration eines Viertelliters Milch pro Tag.

Die Eisenbahn war in der DDR, mangels Konkurrenz durch Lastwagen, das Rückgrat der Wirtschaft. Knappe Ressourcen gerade zu Spitzenzeiten des Verkehrs führten dazu, dass in allen Reichsbahnwerken Überstunden geleistet wurden. Die Zahl von durchschnittlich 125 Überstunden pro Jahr bei den Beschäftigten des Mutterwerkes in Potsdam galt bereits als hoch. Bei den Häftlingen konnte die Werksleitung die maximale tarifvertragliche Grenze von jährlich 400 Überstunden umfänglich ausnutzen, ohne dass die Betroffenen widersprechen konnten. Die Zahl der Überstunden war so hoch, dass selbst die Gefängnisleitung eine Senkung der Überstunden forderte. Allerdings hatte die Leitung des Ausbesserungswerks das Recht, die Häftlinge in Zeiten hohen Ausbesserungsbedarfs wie vor der herbstlichen Güterverkehrsspitze fast unbeschränkt arbeiten zu lassen. So verwundert es nicht, dass Bemühungen des Reichsbahnausbesserungswerks Potsdam nach der Amnestie von 1987, als die Zahl der Häftlingsarbeiter von 275 auf 16 gefallen war, entlassene Häftlinge für ein freies Arbeitsverhältnis anzuwerben, fehlschlugen. Nur zwei ehemalige Häftlinge erklärten sich bereit, nach der Entlassung weiter im Reichsbahnwerk zu arbeiten.

Profitabel

Die Beispiele aus dem Spektrum der Häftlingszwangsarbeit für die Reichsbahn der DDR zeigen deutlich, dass es sowohl für den Strafvollzug als auch die nutznießenden Betriebe darum ging, die Arbeitskraft der Häftlinge auszubeuten. Sowohl die Verwaltung Strafvollzug und die einzelnen Gefängnisleitungen als auch die Arbeitseinsatzbetriebe wollten eine möglichst hohe industrielle Warenproduktion erzielen, die wichtigste Kennziffer der sozialistischen Planwirtschaft. Im Stichjahr 1986 nahm das Ministerium des Inneren insgesamt eine Summe von 257,4 Millionen Mark von den volkseigenen Betrieben für die Leiharbeit von Strafgefangenen ein. Nur ein Bruchteil dieser Einnahmen, 16 Prozent, floss als Lohn an die Häftlinge zurück. Der größte Teil der Gewinne aus der Häftlingsarbeit fiel an den Staat. Auch nach dem Abzug der Sachaufwendungen für die Häftlinge blieb beim Ministerium des Inneren ein Überschuss von 156,4 Millionen Mark übrig, mit dem ein erheblicher Teil der Personalkosten im Strafvollzug gedeckt werden konnte.[17]

Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Häftlingsarbeit war für die DDR also erheblich. Auch die DDR-Reichsbahn zog aus der Häftlingsarbeit einen erheblichen Mehrwert. Im Unterschied zu den freien Arbeitskräften entfielen auf die Häftlingsarbeiter keine Aufwendungen für betriebliche Sozialleistungen wie Ferienheime, Kindergärten und Kinderkrippen, betriebsärztliche Betreuung, Betriebssportgemeinschaften und Kulturarbeit. Entscheidend aber war, dass im Unterschied zu freien Arbeitskräften Häftlingsarbeiter an jedem Tag verfügbar waren und Überstunden nach Arbeitsschluss und an Wochenenden nicht verweigern konnten.

Bei der Reichsbahn der DDR waren durchschnittlich 260.000 Menschen beschäftigt. Dagegen mag die Zahl der jährlich etwa 500 Häftlinge, die im Gleisbau, auf den Jochmontageplätzen und im Werk Brandenburg für die Reichsbahn arbeiteten, gering erscheinen. Die Haftzwangsarbeiter waren jedoch eine nicht zu vernachlässigende Größe. Sie bildeten eine „Reservearmee“ in einer Volkswirtschaft, in der an Arbeitskräften für schwere, harte und gefährliche Arbeit immer Mangel herrschte. Kriminelle und politische Gefangene waren gleichermaßen einem Haftregime ausgeliefert, in dem das Recht des Stärkeren galt. Die aus der marxistisch-leninistischen Arbeitswertlehre abgeleitete theoretische Annahme, dass mit der Verstaatlichung zentraler Produktionsbereiche und der Einführung der sozialistischen Planwirtschaft die Ausbeutung der Menschen durch den Menschen abgeschafft sei, hatte zwar in die Verfassung der DDR ebenso Eingang gefunden wie das viel zitierte „Recht auf Arbeit“. Für die Strafgefangenen und insbesondere die politischen Gefangenen der DDR musste das nur zynisch erscheinen. Ihre Arbeitskraft wurde ausgebeutet und aus dem „Recht auf Arbeit“ wurde der „Zwang zur Arbeit“. Das traf für die aus politischen Gründen Verurteilten genauso zu wie auf die kriminellen Häftlinge.


Zitierweise: Susanne Kill, Die Reichsbahn und der Strafvollzug in der DDR: Häftlingszwangsarbeit und Häftlingstransport, in: Deutschland Archiv, 30.1.2018, Link: www.bpb.de/263448


Fußnoten

1. Vgl. Christian Sachse, Das System der Zwangsarbeit in der SED-Diktatur. Die wirtschaftliche und politische Dimension, Leipzig 2014; Tobias Wunschik, Knastware für den Klassenfeind. Häftlingsarbeit in der DDR, der Ost-West-Handel und die Staatssicherheit (1970–1989), Göttingen 2014.

2. Ab wann die Bezeichnung gebräuchlich wurde, ließ sich nicht ermitteln, wahrscheinlich Ende der 1960er Jahre. Siehe u. a. Rainer Dellmuth, Ausflüge im Grotewohl-Express, Berlin 1999.

3. Vgl. Jan-Henrik Peters, Der Gefangenentransport auf Schienen, in: Susanne Kill, Christopher Kopper und Jan-Henrik Peters, Die Reichsbahn und der Strafvollzug in der DDR. Häftlingszwangsarbeit und Gefangenentransport in der SED-Diktatur, Essen 2016, S. 143–197.

4. Zeitzeugen berichten: Aram Radomski, „Das war ja kein Komforttransport“, in: ebd., S. 139–141, hier S. 140.

5. Im Detail vgl. Jan-Henrik Peters, Häftlingsarbeiter, Gefängnisse und Gefangenenarbeit für die Deutsche Reichsbahn in Sachsen, in: ebd., S. 27–54, hier S. 36–50.

6. Christopher Kopper, Häftlingsarbeit in der Planwirtschaft. Arbeiten im Gleisbau und im Ausbesserungswerk der Reichsbahn, in: ebd., S. 55–125, hier S. 95 f.

7. Ebd., S. 119 f.

8. Ebd., S. 54

9. Vgl. Falk Bersch und Hans Hermann Dirksen, "Nie wieder nach Berndshof!" Allgemeiner Strafvollzug und Militärstrafvollzug in Berndshof/Ueckermünde 1952–1972, in: Deutschland Archiv, 18.6.2015, http://www.bpb.de/208378, letzter Zugriff am 19.1.2018.

10. Hans-Hermann Dirksen, „Keine Gnade den Feinden unserer Republik“. Die Verfolgung der Zeugen Jehovas in der SBZ/DDR 1945–1990, Berlin 2001, S. 749–786.

11. Leonore Ansorg, politische Häftlinge im Strafvollzug der DDR. Die Strafvollzugsanstalt Brandenburg, Berlin 2005, S. 299 ff.

12. Bericht anlässlich der Sicherheitsüberprüfung eines Reichsbahners, BStU, BVfS Potsdam, Abt. VII, Nr. 1670; vgl. Kopper, Häftlingsarbeit (Anm. 6), S. 80.

13. Ebd., S. 80–83.

14. Vgl. Steffen Alisch, Zwischen Kontrolle und Willkür – Der Strafvollzug in der DDR, in: Deutschland Archiv, 12.5.2016, http://www.bpb.de/227634, letzter Zugriff am 19.1.2018.

15. Zeitzeugen berichten: Wolfgang Schmidt, „Eigentlich war die Reichsbahn mein Ding, in: Reichsbahn und Strafvollzug, S. 135–137, hier S. 136.

16. Kopper, Häftlingsarbeit (Anm. 6), S. 116.

17. Ebd., S. 120.

 
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